„Aussteigen ist keine Option“

20.04.2021

Eigentlich wollte Stefan Ziegele in seinem Ruhestand Spanisch lernen, viel Radfahren und sich intensiv der Fotografie widmen. Auf drei DIN-A4-Seiten hatte der Anspacher genau ausformuliert, wie er seine Tage künftig gestalten wollte. Jetzt aber sitzt der 67 Jahre alte Volkswirtschaftler, der bis 2018 als Statistiker in einer Marktforschungsgesellschaft tätig war und 300 Mitarbeiter weltweit geführt hat, acht Stunden täglich in seinem Arbeitszimmer, um sich auf seine ehrenamtliche Tätigkeit als FDP-Stadtverordneter vorzubereiten. „Das ist schon ein richtiger Job“, meint der Neuling im Hinblick auf die konstituierende Stadtverordnetenversammlung am Donnerstag und lacht. „Meine Frau hat auch schon festgestellt, dass ja alles wieder wie früher ist.“
Das Wort „perfektionistisch“ mag Ziegele nicht so gerne, aber er gibt zu, dass er sich in den vergangenen Wochen sehr viel Arbeit gemacht hat. „Ich möchte gut vorbereitet sein“, sagt der Politiker, der sich bereits intensiv mit der Hessischen Gemeindeordnung, dem Kommunalrecht, dem Wahlgesetz, dem Baurecht, den Satzungen der Stadt und der Geschäftsordnung der Stadtverordnetenversammlung beschäftigt hat. Aber auch damit, wie Anträge gestellt werden und wie der Umgang gepflegt wird.

Einarbeitung noch nicht beendet

„Und meine Einarbeitung ist noch nicht zu Ende.“ Gerade lernt er, den Haushaltsplan zu lesen und zu interpretieren und auf seine Tücken und Fallen hin durchzuarbeiten. Das ist nicht ganz einfach, wie er zugibt. „Aber da muss ich mich fitmachen.“ Manchmal fühle er sich wieder wie auf der Schulbank. Dazu passt auch folgende Feststellung: „Es ist nicht alles spannend, aber doch notwendig.“
Eine große Hilfe ist Ziegele dabei der ehemalige FDP-Fraktionsvorsitzende Rudolf Kretzschmar, der ihm bereits im Wahlkampf „über die Sache“ zu einem Freund geworden ist und den er auch jetzt noch jederzeit anrufen kann, wenn er eine Frage hat. „Er hat mich in unsagbarer Weise unterstützt, und das hat viel Spaß gemacht.“ Aber auch die Fraktionsvorsitzenden der anderen Parteien hätten ihm ihre Hilfe angeboten, berichtet er.

Begehrlichkeiten abgeblockt

Nur ihre Hilfe? Ziegele grinst und meint: „Es gab auch Angebote zur Zusammenarbeit.“ Er habe aber alle Begehrlichkeiten abgeblockt und erklärt, seinen Weg als Einzelkämpfer gehen zu wollen – anders als FDP-Mann Klaus Becker, der sich in der vergangenen Wahlperiode der CDU angeschlossen hatte. „Ich möchte sichtbar sein und mir die Zeit nehmen, mich in meiner unabhängigen Rolle zurechtzufinden“, sagt er. „Und ich möchte die Ziele der FDP realisiert sehen.“ Aussteigen sei deshalb keine Option, sagt Ziegele und verweist auf den Wählerauftrag, den er bekommen hat. „Dafür bin ich zu loyal.“
Er wolle künftig bei Themen, die ihm wichtig seien, Unterstützer in den anderen Fraktionen suchen, Überzeugungsarbeit leisten, nach einer Einarbeitung auch eigene Anträge stellen und angesichts der wechselnden Mehrheiten im Parlament auch mal das Zünglein an der Waage spielen. Ziegele ist, was die Zusammenarbeit angeht, zuversichtlich für die Zukunft. Die CDU habe die meisten Sitze, der Rest sei nahe beieinander, stellt er fest: „Das fördert Vielfalt, denn es muss immer zu dritt entschieden werden.“
Wichtig sei der FDP künftig beispielsweise die Baupolitik, sagt der Parteivorsitzende und spricht sich für eine Vielfalt an Wohnmöglichkeiten aus. Angesichts der großen Nachfrage müsse es einen guten Querschnitt an Ein- und Mehrfamilienhäusern, aber auch an bezahlbarem Wohnraum und an höherpreisigen Projekten wie Karat 5 geben. 17 000 bis 18 000 Einwohner seien das Ziel.
Ziegele hadert noch immer mit dem Wahlergebnis. Weil die FDP nur 4,3 Prozent der Stimmen und ein Mandat erhielt, hat sie keinen Fraktionsstatus. Der Wahlkampf sei nicht schuld gewesen, stellt er fest, denn auf Anzeigen, Gespräche und Facebook-Auftritte habe er eine positive Resonanz bekommen. „Das Feedback war gut.“ Doch ein Problem sei sicher gewesen, dass die FDP nur mit 10 statt mit 13 Kandidaten angetreten sei. „Wir haben dadurch Stimmen verloren und hätten sonst 5,1 Prozent erzielt“, rechnet er vor. Auch sei er wohl ein bisschen zu spät in die Öffentlichkeit getreten, sagt Ziegele und erinnert an den Wechsel an der Parteispitze. Zudem seien die Ziele der FDP nicht rübergekommen. „Sie waren nicht spezifisch genug.“
Es wird nicht einfach für ihn, das ist auch dem Kommunalpolitiker klar. „Wenigstens muss ich nicht noch in den Magistrat“, sagt er und schmunzelt. Trotzdem: Anders als in anderen Fraktionen, wo sich die Mitglieder die Aufgaben teilen, muss sich Ziegele auf jede Ausschuss- und Parlamentssitzung vorbereiten und sich immer wieder neu in Themen, die mitunter auch schon eine längere Historie haben, einarbeiten. Dafür wird es auch nötig sein, alte Protokolle zu lesen. „Ich muss ja wissen, wofür ich stimme“, stellt er fest. Doch Ziegele setzt auch auf die Hilfe eines außerparlamentarischen Arbeitskreises aus sechs, sieben Parteimitgliedern, der sich vor der Stadtverordnetenversammlung zusammensetzt und gemeinsam berät. „Ich möchte das Ohr für die Partei sein.“

Hoffen auf einen Platz am Tisch

Aber natürlich auch das Sprachrohr, und dafür ist es Ziegele wichtig, dass die FDP, die keinen Anspruch auf einen Sitz in den Ausschüssen und damit auch kein Stimmrecht hat, wenigstens Rederecht bekommt. „Ich hoffe auf einen Platz am Tisch“, meint er, „alles andere wäre wirklich frustrierend.“ Anja Petter

Quelle: Taunus Zeitung – Usinger Neue Presse vom 20.04.2021